Menschen mit komplexer Behinderung im Mittelpunkt
Die bundesweit tätige Stiftung Leben pur setzt sich für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit komplexer Behinderung ein. Gemeint sind damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene, „die aufgrund diverser und komplexer behinderungsbedingter Einschränkungen und sich daraus ergebenden Bedarfen, lebensbegleitend auf fürsorgliche Unterstützung angewiesen sind“ (Falkenstörfer 2020, S.279).
Die Bezeichnung „Menschen mit komplexer Behinderung“ verweist nicht auf eine Eigenschaft, die den Personen zugeschrieben wird, sondern bezieht sich auf die Verwobenheit zwischen der individuellen Lebensrealität und sozialen/gesellschaftlichen Faktoren. Die Stiftung Leben pur versteht die Bezeichnung auch als Hinweis/Aufruf, die Komplexität der individuellen Lebensrealitäten zu berücksichtigen, den Fragestellungen und Bedarfen der Personengruppe auf mehrperspektivischem und interdisziplinärem Weg zu begegnen und somit ihre Würde zu wahren.
Unter Menschen mit komplexer Behinderung können Menschen verstanden werden, die:
- körperliche und intellektuelle Behinderungen haben,
- häufig körpernahe/basale Wege der Kommunikation nutzen und sich meist nicht über Verbalsprache ausdrücken,
- oft zusätzliche Sinneseinschränkungen aufweisen,
- und/oder auch herausfordernde Verhaltensweisen zeigen.
Die Personengruppe zeichnet sich vor allem durch ihre Heterogenität aus. Die Lebensrealität von Menschen mit komplexer Behinderung kann durch folgende Punkte bestimmt sein:
- Lebensbegleitende Angewiesenheit auf fürsorgliche Unterstützung
- Abhängigkeit von häufig wechselnden und nicht koordinierten medizinisch-therapeutischen und pädagogisch-psychologischen Interventionen
- Exklusionserfahrungen
- Verstärkte Erfahrungen des „Scheiterns“ sowie des Abbruchs sozialer Beziehungen
(in Anlehnung an Fornefeld 2008, S.58)
Professor Dr. Andreas Fröhlich (vgl. 2015, S.17), Mitbegründer der Stiftung Leben pur, fokussiert die Unterstützungsbedarfe der Menschen mit komplexer Behinderung. Demnach brauchen sie Unterstützung bei der Entfaltung ihrer Möglichkeiten körpernaher Erkundung und Kommunikation, bei der nachvollziehbaren Ermöglichung der Positionsveränderung und Fortbewegung, bei der achtsamen und dialogischen Sicherung ihrer Grundversorgung und bei der Erschließung der Umwelt sowie dem spielerischen und kreativen Miteinander.
Zur Begrifflichkeit
Für den Personenkreis von Menschen mit komplexer Behinderung liegen unterschiedliche Bezeichnungen und Definitionen vor. Geläufige bestehende Beschreibungen erfüllen nicht immer den Anspruch an Anerkennung und Aufwertung, der mit einer „tragfähigen“ (Fornefeld 2008, S.52) Namensgebung / Benennungen angestrebt werden sollte. Begriffe wie „Mehrfachbehinderte“, „schwere und mehrfache Behinderung“, „schwerste Beeinträchtigung“, „Schwerbehinderte“ oder „Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf“ beschreiben lediglich bestimmte Eigenschaften von Personen, fokussieren die Schwere der Einschränkung oder stellen die Unterstützungsbedarfe in den Vordergrund (vgl. Mohr & Schindler 2024, S.15).
Barbara Fornefeld (2008) prägte den Begriff der „Menschen mit Komplexer Behinderung“, mit dem Personen beschrieben werden, die aufgrund ihrer individuellen und vielfältigen Einschränkungen in ihrem Alltag in besonderem Maße Gefahr laufen, struktureller Gewalt ausgesetzt zu sein und vom Hilfesystem ausgeschlossen zu werden. Die Bezeichnung „Komplex“ soll dabei nicht als Eigenschaft der Behinderung verstanden werden, sondern als Eigenname der Personengruppe dienen und fungiert dabei als ein Attribut der Lebensbedingungen (vgl. S.77). Frau Fornefeld betont, dass für die Erschließung der Lebensrealität des Personenkreises mehrperspektivische und interdisziplinäre Zugänge notwendig sind (vgl. ebd. S.78).
Nach Mohr & Schindler (2024, S.15 f.) beschreibt der Begriff „komplexe Behinderung“ „das Vorliegen einer sowohl mehrfachen als auch schweren Beeinträchtigung der individuellen Entwicklung und der Alltagsgestaltung eines Menschen, das mitunter das Eröffnen voraussetzungsloser Zugänge zur kulturellen Teilhabe notwendig macht“. Die „komplexe Behinderung“ beschreibt dabei, nicht die Eigenschaft des Menschen, sondern eine Verhältnisbestimmung zwischen individualen und sozialen Faktoren.
Mohr & Schindler beschreiben als häufige „Schlüsselmerkmale“ das Vorliegen kognitiver und motorischer Einschränkungen, eine eingeschränkte Verbalsprache, eine schwer einschätzbare rezeptive Sprachkompetenz, das Vorliegen einer schweren Hirnschädigung, Sinneseinschränkungen sowie herausfordernde Verhaltensweisen (vgl. 2024, S.16). Ein sich daraus ergebendes verbindendes Merkmal ist die Abhängigkeit der Personen. Professorin Dr. Sophia Falkenstörfer (2020, S.279 f.) greift diese Abhängigkeit als zentrales Merkmal im Sinner einer „Angewiesenheit auf fürsorgliche Unterstützung“ auf und wählt die Benennung „Menschen mit komplexen Behinderungen“, um die Wechselwirkung zwischen den individuellen Merkmalen und der gesellschaftlichen Situation zu verdeutlichen. Diese sind demnach „Menschen, die aufgrund diverser und komplexer behinderungsbedingter Einschränkungen und sich daraus ergebenden Bedarfen, lebensbegleitend auf fürsorgliche Unterstützung angewiesen sind. (…) Dabei ist es ihnen häufig nicht möglich, sich verbalsprachlich und verständlich auszudrücken. Infolgedessen sind sie in besonderem Maße darauf angewiesen, dass ihnen mit wahrem Interesse begegnet wird.“
Ziele und Aufgaben der Stiftung Leben pur
Motor und Ziel aller Bemühungen ist der Grundsatz: Das Leben mit komplexer Behinderung ist lebenswert.
Im Zentrum der Arbeit stehen Alltagsbelange wie Fragen der Pflege, der Ernährung, des Schlafs und der Kommunikation, aber auch Lebensthemen wie Teilhabe, Bildung und Beziehung. Dabei stehen folgende Aspekte im Fokus:
- Verbesserung der Lebensqualität, Lebensgestaltung und Teilhabe von Menschen mit komplexer Behinderung
- intensive Forschung über das Leben mit Komplexer Behinderung
- interdisziplinären Austausch zwischen Wissenschaftsbereichen wie Medizin, Heil- und Sonderpädagogik, Psychologie, Ernährungswissenschaft, Pflegewissenschaft, Theologie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft sowie zwischen Wissenschaft, Therapie und dem Erfahrungswissen von betroffenen Menschen und Angehörigen
- Erkundung praktischer und alltagstauglicher Lösungen
- Beratung von Menschen mit komplexer Behinderung und deren Angehörigen
- Information und Aufklärung der Öffentlichkeit über die Lebensrealität und Bedarfe von Menschen mit komplexer Behinderung
- Veranstaltung von disziplinübergreifenden Fachtagungen, Gesprächs- und Expertenarbeitskreisen, Seminaren, Workshops und Weiterbildungskursen
- Dokumentation der Ergebnisse und Bereitstellung vielfältiger Materialien
Literatur
Falkentörfer, Sophia (2020): Zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart. Eine Analyse im Kontext komplexer. Wiesbaden: Springer VS
Fornefeld, Barbara (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. München: Ernst Reinhardt Verlag
Fröhlich, Andreas (2015): Basale Stimulation. Ein Konzept zur Arbeit mit schwer beeinträchtigten Menschen. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben
Mohr, Lars & Schindler, Anrdré (2024): Komplexe Behinderung: Einführung und Grundlagen. In: Schäfer, Holger & Loscher, Thomas; (Hrsg.): Unterricht bei komplexer Behinderung. Sonderpädagogischer Schwerpunkt Geistige Entwicklung
Operative Tätigkeit
Die Stiftung Leben pur ist eine operativ tätige Stiftung. Das heißt, sie ist nicht in der Lage, einzelne Personen oder Gruppen finanziell zu unterstützen, sondern setzt ihr Stiftungsvorhaben mit Hilfe von eigenen Projekten um. Hierbei ist sie auf die Gabe von Drittmitteln angewiesen.